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Debatte

„Widerstand“ und Verschwörungsphantasien in der Corona-Krise

Erstaunlich rasant ist die Zahl derjenigen gewachsen, die sich als Retter_innen der Freiheit aufspielen. Eine Position zu finden, die sowohl der staatlichen Krisenverwaltung kritisch gegenübersteht, als auch die selbsternannten Rebellen einordnen kann, scheint nicht leicht von der Hand zu gehen. Doch wie lassen sich die Auswüchse der Krise verstehen und was könnte es angesichts der Situation jetzt brauchen?

Konkurrenz und Pandemie

Die Pandemie durch das Coronavirus trifft uns auf beiden Ebenen unserer selbstgewählten Existenz in dieser Gesellschaft: als Ellbogenbenutzer_innen und Konkurrent_innen, denen die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus jetzt wieder einmal deutlich vor Augen steht. Die Ich-AGs und prekären Mini-Jobs im outsourcenden Subunternehmen, die ohnehin nie so richtig toll waren, haben ein massives Problem, wenn Vater Staat sich ihrer nicht erbarmt und sie vor der unsichtbaren Hand des Marktes beschützt. Eine solche wirtschaftliche Verunsicherung am gesellschaftlichen Ende versetzt dabei den Kleinbürger erst so richtig in Panik, weiß er doch, dass ein Kleiderschrank voll mit gehamstertem Klopapier nur eine scheinbare Sicherheit darstellt. 


Freiheit im Krisenstaat

Doch auch für Bürger_innen, die nicht nur die Freiheit haben, sich für Lohnarbeit jeden Morgen aus dem Bett zu quälen, sondern auch überall hin zu düsen und alles zu kaufen, so lange der Geldbeutel es erlaubt, gibt es bisher ungeahnte Einschnitte. Haben restriktive Polizeigesetze und die Abschottung Europas an den Außengrenzen bisher nur wenige Menschen wirklich interessiert, platzt den Leuten jetzt die Hutschnur, wenn der Zweitwohnsitz in Mecklenburg-Vorpommern nicht mehr besucht werden kann und man beim Einkaufen vom Secu gebeten wird, eine Maske zu benutzen. Dabei sollte es auch ruhigere Zeitgenoss_innen bedenklich stimmen, wenn einem Jens Spahn weitreichende Befugnisse erteilt werden und sich der Bundestag das Mandat zum Durchregieren gibt. Auch die Gewissheit, dass begnadete Menschenrechtsverachter wie etwa ein Orbán gerade sicherlich Schlimmeres im Schilde führen, als die Bundesregierung, stimmt ja nicht unbedingt optimistisch.


Der Name ist Programm: „Widerstand“

Die beiden Einschnitte auf wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Seite scheinen nun das Potential der üblichen Verdächtigen von Impfgegner_innen bis Wutbürger und Aluhutfan wieder einmal deutlich hervorzubringen. Der autoritäre Reflex schnappt über und bringt allerhand Projektionen und Aberglauben mit sich. Das Überlegenheitsgefühl, dass durch das vermeintliche Verstehen der Verhältnisse entsteht hat dabei eine Scharnierfunktion, die viele Unterschiede integrieren kann. Gemeinsam ist allen Akteur_innen dabei eine obsessive Faszination für das „Natürliche“. Der von ihnen ausgerufene „Widerstand“ ist in der Tat ein solcher, der allerdings nicht auf die heldenhafte Pose im Kampf für die Freiheit ausgerichtet ist, sondern gegen sich ihnen aufdrängende Zusammenhänge, die sie aber einfach nicht wahrhaben wollen. Dieser Zusammenhang besteht dabei in der Existenz eines Virus, vor dem sich nicht sicher geschützt werden kann und über das noch relativ wenig bekannt ist.


Spazieren gehen“ als inszenierte Rebellion

Auch ihre zentrale Praxis, das „Spazierengehen“, lässt tief blicken. Das Aushalten von Ungewissheit, die Notwendigkeit, selbstständig möglicherweise weitreichende Entscheidungen zu treffen, hat dabei verständlicherweise viele Menschen vor Herausforderungen gestellt. Einige macht es hingegen noch unempfänglicher für Fakten, als sie es zuvor gewesen sind. Haben erst die üblichen Abfuhren vom Verpetzen von lauten Jugendlichem im Park bis hin zu rassistischen Ausfällen gegen (vermeintliche) Chines_innen gereicht, braucht es nun, da der Ausnahmezustand nicht eingetroffen ist, eine neue Form. Was sie erreichen wollen, hat ihre Inkarnation auf der politischen Bühne, Donald Trump, bereits zusammengefasst: „Sie haben Lagerkoller“ und „wollen ihr Leben zurück.“ Vermittelt schon das Einkaufen oder nach draußen Gehen einen Eindruck davon, dass das „normale“ Leben noch nicht ganz vorbei ist, wird diese Tätigkeit dann als Rebellion inszeniert, um sich der kollektiven Handlungsmacht zu vergewissern.


Was es jetzt brauchen könnte

Dabei ist der Wunsch nach Normalität, was auch immer das ist, nur nachvollziehbar. Dass an dem Ziel vorbeigeschrammt wurde, Infektionsketten nachvollziehen zu können und dass ggf. eine zweite Welle des Virus droht, ist aktuell besonders bedenklich. Da die Menschen, die sich soziale Distanz überhaupt leisten können, ohnehin von der Gesellschaft bevorteilt sind, müsste es jetzt auch darum gehen, die erkaufte Zeit in mehr Wissen über das Virus zu investieren, das allen Menschen zugänglich gemacht wird. Gerade die Analyse der lokalen Verbreitung durch ausreichende Tests und eine kontinuierliche Information darüber scheinen immens wichtig. Ebenso sind es Pläne, um Bevölkerungsgruppen besser als bisher zu schützen, die im Spiel des Lebens nicht so viel Glück gehabt haben. Wohnungslose, Menschen mit Behinderung, Geflüchtete und Menschen, die im Knast sitzen, können sich noch viel weniger eine zweite Welle des Virus leisten als Andere.


Selbstbewusste Individuen

Deshalb ist die in Aussicht gestellte Lockerung der bisherigen Maßnahmen bis Juni ausreichend. Das wir selbstbewusst handelnde Individuen und Kollektive dabei sinnvoller finden, als staatliche Verordnungen versteht sich von selbst. Auch der Fall, dass bestimmte Maßnahmen vernünftiger sind als Andere liegt ebenso auf der Hand und müsste jetzt dazu führen, über diese zu streiten! Der Grundsatz lautet jedoch: Nur weil einige so lange nicht an die Existenz einer Krankheit glauben wollen, bis es sie selbst erwischt, sollten andere nicht darunter leiden. Dabei spricht nichts dagegen, in kommunalen und kollektiven Strukturen auf der Basis von Tests eigenständige Entscheidungen zu treffen. Hier muss es schlussendlich auch darum gehen, die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen sichtbar zu machen, die sich noch immer „outen“ müssen, wenn sie zur Risikogruppe gehören.

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